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Reihen-Tollhaus

Erinnern Sie sich noch an Großmutters geliebte Oberarme, die im Sommer wie über-dimensionierte Weißwürste in Presspassung aus den Ärmellöchern der stets gleichen Küchenkittel heraus quollen und den Blick auf gewaltige Impfnarben frei gaben, anhand derer sich zurück rechnen lassen hätte, wie Großmutters Arme einmal ausgesehen haben mussten, als sie selbst weder groß noch Mutter war?

Im aktuellen griechischen Drama läuft alles etwas rascher ab als damals bei Großmutter. Die Narbe, in diesem Fall selbst verursacht durch ein selbstverstümmelndes Gemetzel am nach Brüssel gemeldeten Haushalt, hat sich in Politik und Medien zu einem monströsen Etwas ausgewachsen, das in vielerlei Hinsicht wie ein Exempel aus dem Tollhaus anmutet, sich aber nur in eine prosperierende Siedlung „toller Häuser“ einreiht. Ein Reihen-Tollhaus, sozusagen.

Tollhaus, die Erste!

Zu Recht wird kritisiert, dass sich Athen den Zugang zum Euro durch regelwidriges Verhalten erschlichen hat. Die Idee, dem Land entweder über die Gründung eines „sgn.“ EWF oder aber durch die Gewährung von Krediten aus der Klemme zu helfen, stellt aber ihrerseits, gemessen an den EU-Verträgen, ganz ohne Zweifel einen nicht minder krassen Regelverstoß dar.

Besonders absurd erscheint das als Rechtfertigung einer geplanten Kreditvergabe bemühte Argument, diese Kredite mit einem Zinssatz auszustatten, der deutlich über dem aktuellen Marktzins liegt.

Denn in der Praxis würde das bedeuten, den Griechen genau dann Steuergeldern unter die Arme zu greifen, wenn am Markt nicht einmal mehr die hartgesottensten Spekulanten zum Kauf von Hellas-Anleihen bereit sind. Dass in einer dermaßen prekären Situation ein deutlich über dem Marktzins liegender Zinssatz der griechischen Wirtschaft vollends den Garaus machen würde, liegt wohl auf der Hand und beweist, dass diejenigen, die derartige Ideen entwickeln, nicht wissen, was sie tun.

Tollhaus, die Zweite

Wie aus dem Tollhaus mutet auch der Vorwurf insbesondere an Deutschland an, zu viel zu exportieren und zu wettbewerbsfähig zu sein.

Denn in einem quasi in den Status eines Naturgesetzes erhobenen, völlig einseitig auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystems sind Konsum, eine hohe Exporttätigkeit und Wettbewerbsfähigkeit nun einmal die conditio sine qua non für jedes Prosperieren, von dem ja auch die Schwachen profitieren. Schließlich war und ist Deutschland der größte Geldgeber der EU. Cui bono also, wenn Deutschland auf die Bremse träte?

Und was die Exporte betrifft: Produzieren und exportieren wir irgendetwas irgendwohin, ohne dass zuvor dort eine Nachfrage entstanden wäre? Der Unternehmer, der das täte, könnte seinen Laden gleich dicht machen.

Tollhaus, die Dritte!

Den Laden dicht machen, so meinte Bundespräsident Köhler am Samstag in einem Focus-Interview, können wohl auch Staaten, die sich nur verbal um das Problem des Schuldenexzesses kümmern.

Statt Steuersenkungen brachte Köhler, früher ja einmal geschäftsführender Direktor des IWF, sogar Steuererhöhungen ins Spiel. Auch hierfür gilt das Gleiche wie für teure Kredite für Griechenland: Je mehr man Schuldnern, Verbrauchern und dem Staat inmitten einer Schuldenkrise abverlangt, umso mehr verschärft man das Problem, zu dessen Bekämpfung man angetreten ist.

Tollhaus, die Vierte!

In den fetten Jahren nicht für die mageren vorzusorgen, die Einsicht in die Gezeiten der Konjunkturzyklik wahlpolitisch vermeintlichen Sachzwängen unterzuordnen, das Tempo der Verschuldungsorgie in eine verhängnisvolle Eigendynamik übergehen zu lassen und nicht zuletzt das phlegmatische Festhalten an einem weder ökonomisch noch ökologisch sinnvollen Mantra des immer währenden Wachstums sind die Gründe der heutigen Krise.

„Keine Experimente mit ungewissem Ausgang“ hat Kanzlerin Merkel am Samstag als Motto für die NRW-Landtagswahl am 09. Mai 2010 ausgegeben.

Was die historisch beispiellose Schuldenexpansion, den sgn. Rettungsschirm für die Banken, die sgn. „too big to fail“-Strategie, die sgn. Abwrackprämie, die sgn. Gesundheitsreform, die sgn. Auslandseinsätze der Bundeswehr, der sgn. Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung, den angedachten EWF, den klammheimlich errichteten Schattenhaushalt, der in der neuen Rekordverschuldung des Bundes gar nicht enthalten ist und die Steuersenkungspläne der Regierung betrifft, fährt die große Koalition seit langem Experimente mit ungewissem Ausgang, ja, das scheint sogar das Einzige zu sein, was die Großen Koalition bis jetzt eint.

2011 platzt der Spuk, zumindest teilweise: Die in „Sondervermögen“ umdeklarierten Sonderschulden müssen dann bedient werden, die vom Grundgesetz geforderte Schuldenbremse demaskiert den in der jetzigen Rekord-Neuverschulung fatalerweise gar nicht enthaltenen sgn. Schattenhaushalt. Bumm. Ende der Volksverdummung.

Zumindest theoretisch. Denn die, die es angeht und die die Zeche zahlen, werden von den von ihnen gewählten Lenkern ge- und verblendet, fressen die vergifteten Zuckerl nur zu gerne, solange es der eigenen Illusion und der mentalen Vertagung des Tag X dienlich ist:

Natürlich wird es keinen Staatsbankrott geben. Und auch keine Währungsreform. Es gab ja auch keine Wirtschaftskrise, keine Kreditklemme, keine Euroschwäche, keine Bankenpleiten, keine einbrechenden Steuereinnahmen, keine versteckte Massenarbeitslosigkeit, keine Explosion von Minijobs und befristeten Arbeitsverträgen.

Tollhaus, die Fünfte!

Dass das Problem dank Globalisierung, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, fast alle Industrienationen, aber auch die aufstrebenden Schwellenländer trifft, ist bekannt. Ebenso bekannt ist, dass ganz offensichtlich niemand auch nur ansatzweise so etwas wie einen Lösungsvorschlag hätte, abgesehen vom Verlängern der langen Bank, auf die die Probleme nun schon seit Jahrzehnten geschoben wurden.

Die Antwort der Notenbanken und Staaten auf die neue, in ihrer Dimension beispiellose Finanzkrise fällt stattdessen erschreckend stereotyp aus: Geld.
Mit Geld wurden die kleinen und mittleren Krisenherde der vergangenen Jahrzehnte abgelöscht. Mit immer und immer mehr Geld, immer und immer mehr Schulden.
Jetzt, wo dieser aufgeschaukelte Irrsinn zu kippen droht, erneut in Geld die Rettung sehen zu wollen unterstreicht, dass die Beteiligten ungeachtet aller Lippenbekenntnisse nicht verstanden haben, dass wir es nicht mehr mit einer Krise innerhalb des Systems, sondern mit einer Krise des Systems selbst zu tun haben.

Tollhaus der Tollhäuser!

Die mit Abstand größte Realitätsverleugnung leisten sich aber zweifellos die Akteure der Finanzmärkte, die so tun, als ob sie all das Geschilderte entweder gar nicht wüssten oder als ob es sie nichts anginge.
Dass das Geld, das Notenbanken und Regierungen zur Stimulierung der Wirtschaft in den Geldkreislauf gepumpt haben, dort größtenteils niemals ankam und stattdessen an den Kapitalmärkten gleich alle Assetklassen nach oben katapultierte, wird mit voreiligem Applaus bedacht. Nur:

Einen historischen Präzedenzfall, in dem eine zwischen Realwirtschaft und Börsen geöffnete Schere nicht irgendwann zugeschnappt wäre, gab es noch nie. Und die „Diesmal ist alles anders“-Regel hat auch noch nie funktioniert. D. h.:

Teil zwei der vermeintlich überwundenen Katastrophe kommt erst noch. Und natürlich wird er wie gewohnt genau dann mitten in die Party hinein platzen, wenn sich die Stimmung dort auf dem Siedepunkt befindet.
Ob wir diesen Zustand bereits erreicht haben oder ob es dafür noch einmal sechs Wochen braucht, kann niemand wissen. „Sell in May an go away“ dürfte sich aber diesmal als beste aller möglichen Strategien bewären! Nur:

So irrig es ist, wenn die politisch Verantwortlichen eine Krise des Systems selbst mit früheren krisenhaften Situationen innerhalb des Systems verwechseln, so irrig ist auch die Annahme, dass Kurse von was auch immer einfach permanent in den Himmel wachsen, nur weil ausreichend Liquidität für permanenten Aufwärtsdruck sorgt.

Der Witz: die US-Geldmenge M3, deren Veröffentlichung im Sommer 2006 von der FED eingestellt wurde, das sie zu inflationsträchtig wurde, fällt seit Jahreswechsel 2008/2009 – und das trotz der Horrorsummen, die in den Markt gepumpt wurden. (Noch) nicht Inflation, sondern Deflation wird das nächste Thema sein. Da auch M1 fällt, die eher als Indikator für die Realwirtschaft gelten kann, konkretisiert sich das von mir erwartete Szenario einer deflationären Depression.

Denken Sie an die New Economy. Deren Ende fand im März vor neun Jahren statt. Diesmal erwischt es nicht nur ein Segment des Aktienmarktes. Und auch nicht einmal nur den Aktienmarkt. Es geht um eine „Bereinigung“ historischen Ausmaßes, die all die oben aufgeführten Verbiegungen wieder begradigen wird.

Jetzt ganz ohne Puts unterwegs zu sein, ist wie ein Marsch durch die Sahara ohne Wasserflasche. Jetzt mit Puts voll eingedeckt zu sein, ist wie ein Marsch durch die Sahara mit zwei Kästen der Queen of Table-Waters.

Nun gezielt erste Puts (plain vanilla-Optionsscheine, keine Knockout-Produkte) zu kaufen und diesen Weg entweder bei Erreichen noch einmal höherer Kurse oder aber beim Vorliegen klarer technischer Verkaufssignale konsequent auszubauen, ist wie das Umgehen der Wüste. Für erste, nicht überdimensionierte Puts mit langer Laufzeit brauchen Sie keine Stopps zu setzen. Lassen Sie sie einfach ihren Dornröschenschlaf schlafen, bis sie vom Bären wach geküsst werden.

Großmutter hat Ihnen sicherlich Märchen vorgelesen, von denen Sie vieles vergessen haben. Das hier ist aber keines. Ober-Arme wird es bald viel zu viele geben. Auch in „Jedermanns“ Umfeld, falls Sie den Bezug verstehen.

Wir bei private profits sind keine Jedermänner. Und wollen auch keine Leser, die das sind. Keine intellektuell armen Teufel, die sich von auf Gier und das Versprechen des schnellen Reichtums abgestellter Werbung anlocken lassen.

Selbstdenker mit Verständnis für Strategisches und einer ausgeprägten Affinität auch für spekulative Kicks hingegen sind uns willkommen.

Beste Grüße!
Axel Retz

Der Verfasser ist Herausgeber der Webseite www.private-profits.de


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